Der letzte Traum
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"Lisa"
Laut schallte der Ruf durch die Halle.
Die Tür öffnete sich und herein kam ... man konnte nicht
erkennen, wer herein kam. Das Wesen war völlig unter seinen
Haaren verborgen. Lange glatte Haare, die bis auf den Boden
reichten. Vielleicht auch noch länger, die unteren Enden waren
nach innen gebogen.
Die Haare glänzten im Licht der Halle und brachen es in allen
Farben des Spektrums.
Ein natürliches Prisma.
Wie ein Regenbogen stand sie da. Die Haare leuchteten auf dem
Hintergrund eines dominierenden hellblond.
Das Haare so etwas konnten? Eine physikalisch einmalige
Situation. Die Haare mussten transparent sein, wie Glas und
dabei hart wie Diamant.
So harte Haare?
Die sind doch eher weich und zerbrechlich.
Na, manchmal auch nicht, wenn auch nur im Kleinen. Für so ein
Photon reicht das ja. Aber die hinter den Haaren sieht man ja
auch nicht *grins*
L.. L.. Losty???
<>
"Der Frisierstuhl wartet schon."
Ach ja, die banale Realität.
Das Wesen blieb an der Tür stehen, es traute sich nicht herein.
Annala ging auf sie, fasste durch die Haare hindurch nach einem
Arm und zog sie mit sich.
"Nun komm schon. Wenn wir dir die Haare abschneiden, wirst du
schon sichtbar werden. Du wirst eine wunderschöne leuchtende
Kurzhaarfrisur erhalten. Färben brauchen wir die Haare ja nicht.
Wir werden sie dann im TV versteigern. Dabei kommt bestimmt ein
ansehnlicher Preis zustande".
Lisa wehrte sich. Sie wollte nicht.
"Lisa, es geht nicht anders. Die Schulordnung lässt nur noch
Bobfrisuren zu, als Langhaarfrisuren! Deine Haare wurden schon
zur Auktion angeboten, es gibt einige, die sie haben wollen. Das
gibt sicher eine interessante Versteigerung. Mit dem Geld kannst
du dir dutzende von Perücken leisten."
Wer hatte sie denn gefragt? Eine Perücke? Nein, niemals, ohne
die Haare würde sie auf ewig glatzköpfig sein, oder sterben.
Einfach so.
Annala griff fester zu. Nun kam auch Emelia hinzu, griff sich
den anderen Arm. Gemeinsam zogen sie Lisa voran, Richtung
Frisierstuhl.
Aber war das überhaupt Lisa? Vor lauter Haaren sah man ja nichts
von ihr.
Nur die hochhackigen Schuhe wurden manchmal sichtbar, High
Heels. Und ein paar Armreifen, Ringe, Gummis.
Vor dem Stuhl angekommen. Beada kam nun auch noch hinzu.
Das kurzhaarige Triumvirat dieser Show.
"Ach komm doch Lisa, die Haare gehören den Meistbietenden.
Willst du denn alles für dich alleine haben? Denke doch einmal
daran, was du mit dem Geld alles Gutes tun kannst."
Zu dritt setzten sie Lisa in den Stuhl.
Alle drei Frauen hatten schon die passende Frisur.
Nun saß Lisa im Frisierstuhl. Vor ihr der große Spiegel. Konnte
sie durch die Haare hindurchsehen?
Oder wollte sie gar nichts mehr sehen?
Zwei Arme tauchten plötzlich aus den Haaren auf und schoben sie
ein wenig zur Seite.
Ein Auge wurde sichtbar.
Es schien ganz feucht zu sein. Ob sie geweint hatte?
...
Frisörmeister Harlos griff nach ihren Haaren, wollte sie sich
für das Schneiden zurechtlegen. Über die Lehne des Stuhles nach
hinten. Doch was war das?
Nackte Haut wurde sichtbar. Mit einem mal sah man ihre
entblösten Beine. Das Mädchen war offenbar völlig nackt unter
ihren Haaren!
Er schob die Haare wieder zurück, nach vorne. Nein! Und das im
abendlichen Fernsehen. Es würde Proteste geben! Man war doch
kein Pornosender.
So waren Lisas Haare erst einmal gerettet. Wirklich?
Sollte er ihr nicht einfach einen dicken Strang wegschneiden.
Damit ein Anfang gemacht wurde?
Mit der einen Hand griff er in die Haare, in der anderen Hand
die große Schere.
Die Moderatorin Maurizia mischte sich ein.
"Nein. Wir zerstückeln die Haare nicht. Wir brauchen sie in
ihrer Gesamtheit. Lisa, du gehst jetzt sofort in den
Umkleideraum und ziehst dir etwas an. Wir warten hier. Wenn du
nicht in 10 Minuten wieder zurück bist, fliegst du von der
Schule. Du weißt, was das bedeutet."
Frisörmeister Harlos hatte wohl nicht zugehört. Er wollte
einfach weitermachen, schneiden. Aber dann, aus, ein Krampf im
Arm. Die Schere polterte zu Boden. Jemand musste laut nießen.
Gesundheit.
Lisa erhob sich von alleine von ihrem Frisierstuhl. Das hätte
man ihr gar nicht mehr zugetraut, nachdem schon drei Frauen sie
hatten führen müssen. Und das Sonderbare dabei, alle ihre langen
Haare hatte sie noch.
Noch nie hatte jemand diesen Stuhl wieder mit langen Haaren
verlassen.
Die Zuschauer begannen zu murren.
"Haare ab, Haare ab, schneidet ihr endlich die Haare ab."
Waren das nun bestellten Schreihälse oder dachten alle so?
Was für ein Auditorium.
Man sah immer noch nichts von Lisa. Nur lauter Haare. Sie
schienen aus sich heraus zu leuchten. Wie war denn so etwas
möglich? Sicher eine optische Täuschung.
Lisa bewegte sich Richtung Ausgang, öffnete die Tür und weg war
sie.
Sie wurde im angrenzenden Raum von Hanna empfangen und
leidenschaftlich umarmt. Nun saßen beide auf dem Boden, bedeckt
von ihren Haaren. Nichts sah man von ihnen, nur die Bewegung in
den Haaren. Was machten die dort?
Von draußen hörte man die zurückgelassen Showmaster reden.
"Wer ist die Nächste?"
"Hanna mit ihren körperlangen welligen Haaren. Locken, die bis
auf den Boden reichen."
"Hanna!!!"
Nichts geschah.
Dann musste man sie eben holen gehen.
Nein, nicht schon wieder. Und die anderen 28 Mädchen. War das
hier ein Freikörperbüro?
Die Kleidung hatten sie aus dem Fenster geworfen. So war einfach
nichts mehr zum Anziehen da.
Alle Mädchen wurden von ihren Haaren bedeckt, man sah ihre
Nacktheit nicht.
Natürliche Kleidung! Was sollte nur aus der Textilindustrie
werden. Nein, so ging das nicht.
...
Sie saßen eng zusammen, streichelten sich gegenseitig Haut und
Haare. Beides wurde irgendwie zu eins.
"Bitte, lasst uns doch unsere langen Haare. Wir lieben sie so."
Nein, das ging einfach nicht. Die politischen Vorgaben forderten
das Ende der Langhaartradition. Seit tausenden von Jahren gab es
Frauen und Männer mit sehr langen Haaren. Es passte einfach
nicht mehr in das Bild der modernen Zeiten, in das Bild des
modernen Menschen.
Die Männer hatte man inzwischen schon an ihre Kurzhaarigkeit
gewöhnt.
Jetzt waren die Frauen dran.
Moderne Zeiten?
Ein Kameramann war mitgekommen. Alle im Lande konnten sie nun
sehen, wie sie zusammenhockten, mit ihren Haaren, sich
gegenseitig streichelten und darum bettelten, ihnen doch ihre
Haare zu belassen.
Irgendwie passte es nicht, das Abschneiden der Haare jetzt und
hier mit Gewalt durchzusetzen.
<< Lasst ihnen doch noch diesen einen Tag. Wenn sie
alleine nach Hause gehen, wir werden sie schon kriegen >>
So wurde hier geflüstert.
Danach lies man sie erst einmal wieder allein.
...
"Sie werden uns die Haare wegnehmen, sie können es einfach nicht
zulassen. Sie haben immer gewonnen."
Klara sah so traurig aus. Ihre knielangen Zöpfe hielt sie fest
in den Händen.
"Sind wir nicht der letzte Traum dieser Zivilisation? Wir mit
den langen Haaren. Märchenfeen für die anderen, etwas, was es
sonst gar nicht mehr gibt? Wenn man ihnen auch noch diesen
letzten Traum nimmt, was bleibt dann noch?"
"Der letzte Traum, ja, wir sind der letzte Traum. Ich spüre es,
der letzte Traum einer Zivilisation, die uns gar nicht mehr
wahrnehmen will."
"Oder kann."
"Vielleicht, vielleicht wird es einmal eine Zeit geben, wo auch
der letzte Traum etwas für die anderen tun kann. Solange es ihn
noch gibt"
...
Was sie nicht wussten, das gesprochene Wort, es wurde
aufgezeichnet und weitergegeben.
Der große Diktator, er selbst kümmerte sich darum.
Für so ein unbedeutendes Ereignis?
Nein, es ist nicht unbedeutend. Er will eine jahrtausendealte
Tradition brechen, so wie die Tradition hinter dem Verkrüppeln
von Gliedmaßen und Organen, aus welchen Gründen auch immer.
Aber kann man das denn alles in einen Topf werfen?
Man kann, muss es aber nicht. Es hängt ab vom Standpunkt des
Betrachters.
Und der Dikatator, wer kann schon die Standpunkte eines solchen
Menschen voraussehen?
...
Auf der Straße. Einige dunkle Gestalten verbargen sich in
Hauseingängen, bewaffnet mit Scheren und Messern. Sie wurden
gefunden, von den Eliteeinheiten, die plötzlich überall
unterwegs waren. Einkassiert und weggekarrt.
Schon sehr merkwürdig.
Da musste doch irgendjemand seine schützende Hand über unsere
Rapunzel halten.
Ob der letzte Traum etwas damit zu tun hat?
...
Die Astrophysiker hatten es als erste gesehen. Der Komet Hartrud
raste auf den Planeten zu. Ein Brocken mit einem Durchmesser von
20 km. Er würde ihn in weniger als 2 Stunden treffen. Mit einer
Geschwindigkeit von mehr als 100000 Stundenkilometern.
Wenn dann noch etwas übrig blieb ... denken konnte es wohl nicht
mehr.
Es blieb keine Zeit mehr für Gegenmaßnahmen.
...
Ein Militärkonvoy vor der großen Halle. Soldaten drangen ein,
bahnten sich ihren Weg, in Richtung des Raumes, in dem unsere
Mädchen ihre Liebe füreinander und für ihre langen Haare lebten.
Vielleicht ein letztes mal?
Klopf klopf klopf.
"Wir bitten eintreten zu dürfen."
"Ja, kommt herein. So viele Soldaten? Wollt ihr uns jetzt die
Haare nehmen. Mit militärischer Gewalt?"
"Hallo, ich bin General Marissimo. Der Oberbefehlshaber aller
Streitkräfte des Landes. Ich bin zu euch gekommen, weil wir eure
Hilfe brauchen. Der letzte Traum unserer Zivilisation, wir
brauchen ihn jetzt. Sonst gibt es uns bald nicht mehr. Wir haben
nur noch 90 Minuten Zeit."
...
Wie sollten sie den Kometen aufhalten? Mit parakinetischer
Energie? Aber die beherrschten sie doch gar nicht. Dieses
bisschen Lichtspiegelei, kleine Hexereien, damit konnte man doch
nicht eine ganze Welt aufhalten!
So, und warum nicht?
Alle hatten es gehört und doch war kein Wort gesprochen worden.
Nein, nicht alle, nur die langhaarigen Mädchen, die Mitglieder
des letzten Traumes.
Die Soldaten beobachteten eine Veränderung. Die Mädchen wirkten
mit einem mal hochkonzentriert, und dabei völlig abwesend.
Sie wagten es nicht zu stören, selbst ihre Atmung schränkten sie
ein.
Man hätte eine Stecknadel fallen hören.
Auch draußen war alles still. Die Menschen wussten, worum es
hier ging.
Totenstille vor dem Tod?
Oder auch nicht.
...
<< Losty, wir sind deine Kinder. Bitte, liebe Losty, bitte
hilf uns. Wir schaffen es nicht ohne dich >>
Ein ehrliches Gebet. Und wenn es diese Losty nun nicht gab?
...
Ihr schafft es alleine. Ihr müsst es nur wollen.
Wieder so ein Gedanke aus dem Nichts, von dem man nicht wusste,
ob man ihn überhaupt gedacht hatte.
Lisa: "Kommt, fassen wir uns alle an den Händen, lasst uns ganz
eng zusammenrücken. Eine kleine Kugel aus Leibern, bedeckt von
den Haaren. Und das ganze Land, bitte, denkt mit uns. Liebt uns,
so wie wir euch lieben. Wir brauchen euch alle. Bitte, übertragt
es mit den Kameras in die ganze Welt. Wenn wir alle eins
miteinander geworden sind, dann schlagen wir ihn, mit einem
einzigen Gedanken."
...
Astronom Archibada glaubte seinen Augen nicht trauen zu können.
Der Komet zerbarst in tausende kleine Stücke die alle einen
Impuls mitbekamen, weg von der Erde. Das konnte doch nicht wahr
sein!
...
Der große Diktator empfing sie in seinem Büro. Ja, kein Palast,
einfach nur ein Büro. Noch nicht einmal besonders groß.
"Ich danke euch, Träumerinnen. Und ich bitte euch, lasst uns die
Geschicke dieses Landes gemeinsam gestalten. Wir wissen um euren
Glauben an die unvergleichbare große Losty und wir möchten
diesen Glauben mit euch teilen. Bitte helft uns dabei."
Lisa: "Losty möchte keine Göttin sein, die man anbetet. Sie
möchte einfach nur, dass wir uns weiter entwickeln, aus uns
selbst heraus. Unsere animalische Vergangenheit überwinden
lernen und dem wachsenden Geist den Raum einräumen, der ihm
gebührt. Dann hilft sie uns auch, meistens werden wir es nicht
einmal bemerken."
Lisa, nun sah man etwas von ihr, das Gesicht, die Augen, eine
wunderschöne junge Frau, umrahmt von einem Meer aus leuchtenden
Haaren.
...
Lisa