Tempelhaare
Aria hatte vier dicke lange Zöpfe. Zwei davon trug sie
vorne, die anderen beiden hinten. Manchmal hatte sie aber auch 8
Zöpfe, oder 16, je nachdem, wie ihr zumute war.
Sie mochte ihre langen Haare, streichelte sie sanft. Wenn sie
abends die Zöpfe öffnete, die gewaltige Haarfülle
um sich herum, sie gehörte nur ihr.
Sie fühlte sich wie in ihrem eigenen haarigen Schneckenhaus
und es war so schön, dort mitten drin zu sein.
Die Haare füllten das ganze Bett aus, sie konnte sich darin
einwickeln, schlafen. Eine Decke brauchte sie dann nicht mehr.
Aber oft band sie die Haare auch zusammen, um sie während
des Schlafens nicht zu beschädigen.
Manchmal stand sie abends Stunden vor dem Spiegel, streichelte
ihre Haare. Die Gefühle dabei, sie waren so schön. Als
wenn die Götter selbst ihr zuschauen würden und dabei
lächelten.
Morgends brauchte sie mehr als zwei Stunden, um ihre Haare zu
pflegen, sie zu ordnen. Dabei hatte sie schon sehr viel
Übung damit.
Die Haare erreichten eine Länge von fast 4m. So trug sie
die Zöpfe auch meistens in einander gewunden,
übereinandergelegt. Optisch waren das dann etwa knielange
Haare.
Heute hatte sie eine Gruppe von Menschen kennengelernt, die sie
sehr mochte. Junge Menschen, die alle keine Haare auf dem Kopf
hatten. Zum Teil war es wohl so, dass sie keine Haare bekommen
konnten oder dass die Haare durch Krankheit verloren gegangen
waren, und die anderen? Aus Solidarität, oder weil sie
keine Haare haben wollten, wie auch immer, sie hatten ihre
eigenen Haare abrasiert. Zum Teil lag es auch an der Religion.
Die ganze Gruppe war sehr gläubig und ihre Vorprediger
hatten alle eine Glatze.
So saß sie nun zusammen in einer Gruppe von 20 Menschen.
Sie mit ihren superlangen Zöpfen, die anderen alle ohne
Haare auf dem Kopf.
Die anderen hatten sie vorbehaltlos akzeptiert. Keiner wollte
ihr an die langen Haare. Es war auch irgendwie kein Problem,
über das geredet werden musste. Mehr ein Problem der
Außenstehenden, die die Gruppe betrachteten.
Sie war nicht der einzige Neuzugang. Es gab noch drei andere,
die der Gruppe beitreten wollten. Sie hatte noch ihre Haare.
Nicht sehr lang, aber auch nicht extrem kurz. Haare mittlerer
Länge.
Die drei wollten nun zum Frisör, aus freien Stücken.
Ihnen gefiel es so.
So ging nun die ganze Gruppe in den Tempel. Die drei Betroffenen
saßen auf ihren Stühlen, die anderen in einem Kreis
um sie herum.
Ein vierter Stuhl war noch frei. Für wen denn nur? Die
anderen waren doch noch gar nicht so weit.
Aria fühlte sich beobachtet. Ja, der Meisterfrisör
schaute sie an. Was wollte er nur? Dann deutete er auf den noch
freien Stuhl.
Nun wusste sie, warum. Ihr wurde ganz heiß. Nein, das
wollte sie nicht.
Die anderen hatten wohl mitbekommen, was das für eine
Aufforderung war.
Spontan erhob sich Amaredus und setzte sich auf den freien
Stuhl. Seine Haare wären schon wieder zu lang, man
möge doch bitte nachschneiden. Dabei hatte er gerade einmal
eine Haarlänge von 0,5 cm erreicht.
Missbilligend schaute ihn der Frisörmeister an.
"Was willst du hier? Diese Frau dort, es ist an der Zeit, dass
sie ihre Haare opfert. Warum sonst ist sie mit in den Tempel
gekommen? Hier hat noch nie jemand den Tempel wieder mit langen
Haaren verlassen. Das wäre ein grober Verstoß gegen
den Willen unserer Gottheit."
Nun erhoben sich alle von ihren Stühlen und bildeten einen
Kreis um Aria herum.
Bevor der Frisörmeister überhaupt reagierten konnte
nahmen sie Aria in die Mitte und marschierten mit ihr davon.
"Halt!"
Ein Hilfsknecht der Haaresammler stellte sich ihnen in den Weg.
So eine Art Ordner, der für die Einhaltung der Tempelregeln
zuständig war.
Julius: "Mach den Weg frei. Du hast kein Recht, uns
aufzuhalten."
Drei andere Knechte gesellten sich hinzu.
"Ihr habt eure Opfergabe hier zu lassen. Erst danach dürft
ihr gehen. Das betrifft alle von euch."
"Drei von uns sind doch freiwillig bereit, ihre Haare zu
opfern."
Die drei auf den Frisörstuhlen, sie wollten ja freiwillig.
Aber so ein richtiges großes Geschäft war mit diesen
Haaren nicht zu machen.
Nun, denn. Die Gruppe teilte sich. 8 stellten sich den Knechten
in den Weg, die anderen marschierten mit Aria in der Mitte
einfach an ihnen vorbei.
Die 8 waren nicht die Schwächsten und sie waren in
Kampftechniken erprobt.
Sollte es zu einer Auseinandersetzung kommen?
Es gab einfach zu viele Knechte hier. Dagegen würden sie
nicht ankommen.
Aber dann, eine Gruppe von 50 Glatzköpfen schloss sich
ihnen an. Sicherte die Flanken nach außen. Und es wurden
immer mehr.
Kurz vor dem Eingang wurde Aria von fast 300 Glatzenträgern
geschützt.
Dagegen würden auch die 25 Knechte nicht ankommen.
Dann, ein Schuß. Eine Warnung.
"Jeder der Haare hat, die länger als 1 cm sind, vortreten."
Es waren fünf, die mit ihren Pistolen auf die Gruppe
zielten. Bewaffnete Ordnungskräfte, Polizisten, hier im
Tempel?
Wessen Interessen vertraten sie jetzt eigentlich, in diesem
Augenblick?
Für Arias Haare würden sie einiges hinzuverdienen
können.
Aber das war dann doch zu viel. Die Situation drohte zu
eskalieren.
Aria: "Nein, ich will nicht, dass jemand von euch zu Schaden
kommt. Lasst mich bitte gehen."
Die anderen rührten sich nicht. Blieben einfach nur stehen,
schützten sie mit ihren Körpern.
Wenn die jetzt in die Menge schießen würden ...
Aria: "Bitte, bitte, lasst mich durch. Wenn sie euch wegen
meiner Haare etwas antun, ich könnte dann nicht einfach so
weiterleben."
Zögernd bildetete sich eine Gasse. Nun stand Aria alleine
den bewaffneten Ordnungskräften gegenüber.
Ein dumpfes Grollen war zu hören. Irgendwie
unnatürlich, unecht. Nicht laut genug, um wirklich zu
erschrecken. Wahrscheinlich eine Sinnestäuschung. Die
Ordnungskräfte wandten sich wieder ihrem Vorhaben zu.
"So ist es recht. Dreh dich um, damit ich dir die Zöpfe
gleich abschneiden kann."
Aria dreht sich langsam um. Stille Tränen liefen ihr das
Gesicht herunter.
Ein Zwischenspiel.
"Stopp. Dies ist ein Tempel des heiligen Geistes. Niemand hat
das Recht, hier Waffen zu benutzten."
Der Oberprediger selbst hatte gesprochen.
Die Waffenträger, nein, jetzt wollten sie es durchziehen.
Sollte der sich doch danach beklagen. Hier ging es auch um
Respekt. Schließlich waren sie hier die Polizei. Die
anderen hatten sich zu fügen.
Einer griff nach den Zöpfen von Aria, ein anderer
zückte ein scharfes Messer. Nur noch einen Augenblick.
"Oh, die sind ja noch länger als ich dachte."
Er fummelten an den Bändern herum, die die Zöpfe
zusammenhielten. Dann hatte er einen mehr als 4 Meter langen
Zopf in der Hand.
Der mit dem Messer näherte sich...
Aber dann. Mit einem mal lagen die Ordnungskräfte auf dem
Boden.
Versteckte Wurfgeschosse? Parakinetische Wirkungen?
Es war nichts zu sehen, von eingesetzten Wurfgeschossen. Nun ja,
nichts, was zurückgeblieben wäre.
Was war passiert?
Der Oberprediger stand nun direkt vor ihnen.
"Wir haben Jahrhunderte gebraucht, um eine Religion der Toleranz
zu erzeugen. Alles hier geschieht aus freien Willen haeraus. Und
wie ihr seht, wir wirken nicht nur mit Worten in die Welt."
Dass dies noch ein Nachspiel haben würde, das war sicher.
Keine Polizei eines Landes ließ sich so etwas gefallen. Wo
würde das hinführen? Wenn es keine Autorität mehr
gab?
Aber das war nun nicht mehr das Problem von Aria und ihren
Freunden.
...
Aria mit ihren langen Haaren. Sie stand nun ganz verloren da,
schaute sich hilflos um. Julius ging auf sie zu, umarmte sie.
Dann küsste er ihre langen Zöpfe. "Nein, sie
gehören zu dir. Uns sind sie nicht im Weg. Wir wollen dir
nichts wegnehmen, es ist dein Geist, dein Wesen, damit
gehörst du zu uns."
Aria: "Dann darf ich meine Haare behalten?" Sie musste weinen.
Die Tränen machten ihr Kleid ganz naß.
"Nein, ich will doch gar nicht so anders sein, als ihr ... Ich
werde sie opfern, so wie es alle hier tun. Gleich, damit es
geschehen ist ... "
Julius küsste ihr die Tränen vom Gesicht.
"Nein, das wirst du nicht tun. Du willst es doch gar nicht."
Nun meldete sich der Oberprediger zu Wort.
Oberprediger: "Wir haben um deine Haare gekämpft und
gewonnen. Bitte behalte sie für dich und für uns."
Sanft griff er nach den Haaren von Aria und streichelte sie. Die
anderen schauten zu und lächelten. "Dürfen wir auch
einmal ..."
"Ja :-)))".
Es ist doch so schön, wenn man die langen Haare
berühren kann und sie dabei nicht nur einfach abgeschnitten
werden.
Würde das nun die ganze Haarordnung im Tempel umkrempeln?
Nein, eher nicht. Auf Grund materieller Interessen von wenigen
wurden Dinge ans Licht gezerrt, die eigentlich ganz
selbstverständlich nebeneinander existieren können.
Der Oberprediger wirkte nachdenklich. Alles hatte seine
Richtigkeit. Sie hatten ballartige Geschosse verwendet, die
wieder zu ihren Werfern zurückkehrten. Nur dieses
merkwürdigen Grollen, da war doch etwas nicht
erklärbares geschehen.
Nun denn, er konnte die Frage danach nicht beantworten.
Vielleicht half ihm eine Meditation weiter. Zunächst aber
würde man sich zum Gebet versammeln, die Menschen ohne
Haare mit der langhaarigen Aria in ihrer Mitte ...
Ach ja, diese drei, die ihre Haare opfern wollten. Zwei hatten
es wirklich getan, nur einer von ihnen, er war nun immer noch
langhaarig. Mit Haaren, die bis zu den Knöcheln reichten.
Auch er hatte die wahre Länge seiner Haare versteckt. Man
würde ihn in die Gruppe integrieren, so langhaarig, wie er
nun eben mal war.
...
Ein
Bezug zu den Arianne Erzählungen. Wer nicht daran
interessiert ist, die langhaarige Geschichte ist hier zu Ende.
Ari0nne stand im Dunkeln, man sah sie nicht, aber sie war da.
Ein wenig wunderte sie sich, über die Menschen, die sie nun
auf ihrem Weg begleitete. Vielleicht als Göttin, die sich
offenbarte, vielleicht auch unerkannt. Sie wusste es selbst noch
nicht. Schon merkwürdig, dass ein Wesen wie sie nicht alle
Wege der Zeiten bereits kannte. Dies war eine neue Form von
Unbestimmtheit, die mit ihr in die Welt gekommen war. Sie selbst
entschied, welchen Weg sie in die Zukunft nehmen wollte. Und sie
berücksichtigte dabei die Entscheidung von anderen.
Eins aber sah sie jetzt schon mit aller Deutlichkeit.
Bluewhite's Entführung der Galaxis aus dem diabolischen
Netzwerk, es hatte tiefgreifende Gründe. Und wieder war es
an Ari0nne sich zu wundern. Dass ein Wesen wie Bluewhite, das
der zweiten Stufe der Unendlichkeit angehörte, so weit
schauen konnte?
...